Zum Karriereende des grössten Seeländer Schwingers
Text: Schwingklub Unteres Seeland (SKUS) mit Hilfe von Beat Moning
Eine Ära geht zu Ende. Stucki Christian – Chrigu – bestritt am vergangenen Sonntag, 11. Juni, mit dem Seeländischen Schwingfest in Lyss sein allerletztes Kranzfest, bevor er in den sportlichen Ruhestand als Aktivschwinger ging.

Wie kaum ein anderer Schwinger hat er in den über zwei Jahrzehnten seiner Aktivkarriere den Schwingsport mitgeprägt und die Herzen der Zuschauerinnen und Zuschauer für sich gewinnen können. Seine körperlich beeindruckende Erscheinung von 1.98m und ca. 140 kg, kombiniert mit seiner ruhigen, „gmögigen“ Art und seinen sportlichen Grosserfolgen hat ihn zu einem der bekanntesten Exponenten unseres Schwingsports gemacht. Er war in den 22 Jahren seiner Karriere als Aktivschwinger massgeblich dafür verantwortlich, dass der Schwingklub Unteres Seeland über die Verbandsgrenzen des BKSV hinaus Bekanntheit erlangte. Wir schätzen uns unglaublich glücklich, dass Chrigu seinen letzten Auftritt am Seeländischen mit einem finalen Festsieg perfektionieren konnte und gönnen ihm, mit seinen nun 38 Jahren und leicht ergrauten Haarschopf auf dem Königshaupt, seinen sportlichen Ruhestand von Herzen.
Und dennoch: Irgendwie kann man sich den Schwingsport ohne ihn noch gar nicht so richtig vorstellen. Zu lange war er in kaum vergleichbarer Art und Weise präsent und zählte an jedem Wettkampf, den er bestritt, mit zu den Top-Favoriten. Seine Festsiege am Kilchbergschwinget 2008, Unspunnenschwinget 2017 sowie der Königstitel am ESAF 2019 in Zug sind nur die herausragendsten Schlaglichter aus einer unglaublichen Reihe von insgesamt 44 Kranzfestsiegen und einer Sammlung von 134 Kränzen.

Geboren am 10. Januar 1985 in Aarberg BE und aufgewachsen im beschaulichen Diessbach b. B., war Chrigu von klein auf sportlich aktiv. Nebst dem Schwingen und Hornussen frönte er mit Begeisterung dem Fussballspiel im Verein, wobei sich die Verfügbarkeit von Fussballschuhen in seiner Grösse irgendwann zum Problem entwickelte und er die Jagd nach dem runden Leder auf seiner Prioritätenliste zurückstellte. Ebenso bestand beim in Diessbach populären und auch hochklassig gespielten Rollhockey ein Materialproblem, zumal keine passenden Rollschuhe verfügbar waren.
Schon in jungen Jahren grösser als seine Altersgenossen und von kräftiger Statur, war er für den Schwingsport nahezu prädestiniert und erkämpfte sich als Jungschwinger eine Ausbeute von Doppelzweigen und insgesamt ca. 70 Zweigen. Als sein Vater Wilu ihm als ca. 15-Jährigem nach einem gewonnenen (!) Gang am Buebeschwinget in Attiswil BE gehörig den Kopf wusch, weil Chrigu mehr mit seiner Statur und Kraft anstatt mit Technik gewonnen hatte, mochte dies im Moment nicht angenehm gewesen sein, aber die väterliche Einschätzung erwies sich als richtungsweisend und der Ansatz als wichtig für die Zukunft. Dies bewahrheitete sich im Mai 2001, als Chrigu an seinem zweiten Kranzfest im seeländischen Kallnach bereits zum ersten Mal das begehrte Eichenlaub erkämpfen konnte. Eine Woche später folgte der zweite Kranz am Oberländischen Schwingfest in Boltigen und am 24. Juni 2001 der Bergkranz am Schwarzsee, weshalb der BKSV Chrigu mit gerade mal 16 Jahren für das ESAF in Nyon selektionierte.

Nun war der Höhenflug lanciert: mehrere Kränze pro Jahr folgten und 2003 gelang Chrigu am Emmentalischen in Wasen BE der erste Kranzfestsieg. Während den darauffolgenden Jahren durfte er konstant an mehreren Kranzfesten pro Jahr als erster vor die Ehrendamen treten und 2004 erkämpfte er sich in Luzern seinen ersten Eidgenössischen Kranz.
2005/06 musste Chrigu dann das erste Mal mit einer schwerwiegenden Verletzung kämpfen und um seine Karriere wie auch seine Gesundheit bangen. Aufgrund eines am Schwarzsee erlittenen, stumpfen Traumas am linken Unterschenkel entwickelt sich eine Blutvergiftung. Schlimmstenfalls drohte bei Befall des Knochens eine Amputation, was jedoch glücklicherweise nicht eintrat. So folgte für Chrigu ein mehrwöchiger Spitalaufenthalt und mehrere Monate der Schonung, schlussendlich zieht sich die Gesundung mehr als ein Jahr in die Länge, aber Chrigu packt es.
Am Emmentalischen in Trubschachen steht er am 13. Mai 2007 zum ersten Mal nach 16 Monaten wieder wettkampfmässig im Sägemehl und kann sich den Kranz sichern – das Comeback ist lanciert und im selben Jahr folgen 9 weitere Kränze, davon drei an Bergfesten (Schwarzsee, Schwägalp und Brünig) sowie der zweite eidgenössische Kranz in Aarau. Das Jahr 2008 bringt Chrigu wiederum unglaubliche 11 Kränze und sechs Kranzfestsiege, darunter den Sieg am Kilchberger Schwinget. Nachfolgend gewinnt er während mehreren Jahren durchgehend mehrere Kranzfeste im Jahr, holt sich 2010 in Frauenfeld den dritten Eidg. Kranz und bestreitet am ESAF 2013 in Burgdorf den Schlussgang gegen Sempach Matthias, dem er unterliegt.
In Erinnerung geblieben ist indes nicht Chrigus Schlussgangniederlage, sondern sein Kuss auf Sempachs Stirn – ein Moment, der typisch ist für Chrigu und in unvergleichlicher Manier den schwingerischen Sportsgeist und die Kameradschaft symbolisiert, die er lebt.

Schweizweit definitiv ins Rampenlicht trat Chrigu am Unspunnenschwinget 2017, als er sich in Interlaken zum Festsieg schwingt. Das daraus resultierende, mediale Interesse nimmt Chrigu gelassen hin und macht sich im Rahmen einer TV-Serie unter anderem auf den Weg in den Senegal, nach Indien und in die Mongolei, um sich mit dortigen Athleten in deren jeweiligen Ringsportarten zu messen – das im selben Rahmen stattfindende Treffen in Österreich zum „Ranggeln“ fand im Vergleich dazu beinahe wieder zu Hause statt. Für Chrigu waren und sind Kameras kein Problem. Er gibt sich, wie er halt ist und gewann zahlreiche Sympathien beim TV-Publikum.
Die Ringsport-Reise um die Welt war schliesslich auch nicht der erste Abstecher in exotische Gefilde, reiste doch Chrigu zusammen mit Brügger Roger bereits 2010 nach Japan. Dort sind die beiden auf Sumo-Ringer getroffen und hatten ihre liebe Mühe mit deren Schnelligkeit und Explosivität (und mit dem ungewohnten Mawashi, der traditionellen, gewickelten Sumo-Hose).

Chrigu blieb auch im heimischen Sägemehl nie stehen. Nebst den hochklassigen Trainings des BKSV-Zusammenzugs sowie des Seeländischen Schwingerverbandes setzte er sich viel mit sich selbst auseinander und betrieb unter Begleitung durch den erfahrenen Spezialtrainer Tommy Herzog Mental- und Athletiktraining.
Seine wichtigste Stütze bildet seine Frau Cécile, welche ihm mit den gemeinsamen Buben nicht nur den Rücken freihielt und den Raum schuf, damit Chrigu – seit 2015 als zweifacher Familienvater – trainieren konnte, sondern ihrem Chrigu notfalls auch den einen oder anderen Motivationstritt zu verpassen vermochte.
2019 folgte wiederum ein ESAF-Jahr. Nachdem Chrigu in den Jahren 2010, 2013 und 2016 jeweils als wichtige Stütze für das Team BKSV auf Eidgenössischer Ebene geschwungen hatte und die Berner Wenger Kilian, Sempach Matthias und Glarner Matthias den Titel des Schwingerkönigs erkämpft hatten, sollte es diesmal Chrigus Jahr werden. Obwohl er sich im Mai am Emmentalischen in Zäziwil eine Knieverletzung zugezogen hatte, kämpfte er sich zurück ins Sägemehl. Wie gross das mediale Interesse an Chrigu mittlerweile geworden war, konnte man in den Zeitungen und Onlineportalen ablesen: Landauf, landab wurde gemutmasst, gefragt und spekuliert, ob es der grosse Berner ans ESAF schaffen würde oder nicht.
Doch Chrigu fuhr nach Zug. Und sorgte schlussendlich dafür, dass den Seeländern und dem BKSV ein Stein vom Herzen fiel, als er sich im Schlussgang gegen Wicki Joel in Rekordzeit durchsetzte und endlich den hochverdienten Königstitel erreichte. Als einer der ersten stürmte der zweifache Eidgenosse Gnägi Flöru, Seeländer Verbandskollege und langjähriger Trainingspartner von Chrigu auf den Schwingplatz, um Chrigu zu gratulieren. Die Freude am Gewinn des ESAF war riesig und Chrigu hatte den sogenannten „Schwinger-Grand Slam“ zusammen – die Siege am ESAF, dem Kilchberger Schwinget und dem Unspunnen. Diese Komplettsammlung von Festsiegen bei Eidg. Anlässen hatte vor ihm nur einer geschafft – der dreifach Schwingerkönig Abderhalden Jörg. Den Siegermuni nahm Chrigu nicht nach Hause und auf Nachfrage der Medien meinte er, er wolle nicht, dass der Muni ihm im Garten den schönen Rasen „vertschaupet“.

Nach Chrigus Triumph in Zug rückte kurz auch sein Vater Wilu in den Fokus. Dieser war – in vollem Bewusstsein des Risikos – die Wette eingegangen, dass er von Zug nach Hause laufen würde, sollte Chrigu den Königstitel holen. Und er hielt Wort, auch wenn das Unternehmen noch etwas Vorbereitung benötigte. Schlussendlich marschierte Wilu zwei Monate nach dem ESAF binnen drei Tagen von Zug zurück ins Bärnbiet. Wie es sich gehört, nicht alleine, sondern unterstützt von zwei Schwingerkameraden.
Im gleichen Jahr wurde Chrigu – als erster und bisher einziger Schwinger überhaupt – zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt.

Die folgenden Jahre waren zuweilen von der Verletzungshexe bestimmt. Erstmal brach knapp nach dem Hallenschwinget in Büren vom 22. Februar 2020 die Corona-Pandemie mit den damit verknüpften Restriktionen über den Schwingsport herein. Der Trainings- und Wettkampfbetrieb durfte, wenn überhaupt, nur in sehr reduziertem Ausmass weitergeführt werden. 2021 verletzte sich Chrigu dann am Berner Kantonalen in Aarberg an der Schulter und musste den Saisonhöhepunkt, den Kilchberg-Schwinget, als Zuschauer verbringen.
Im Januar 2022 konnte Chrigu das Training wieder aufnehmen, um im April am Frühjahrsschwinget in Zäziwil erneut eine Schulterverletzung zu erleiden und einen Grossteil der Schwingsaison erneut zu verpassen. Kurs vor dem ESAF in Pratteln Ende August war er wieder startklar, erlitt aber zwei Wochen vor dem Eidg. Grossanlass einen Bandscheibenvorfall.
Und wieder kam Chrigu zurück. Er wurde therapiert und die Schulter war rechtzeitig einsatzfähig, jedoch hatte Chrigu seit seiner ersten Schulterverletzung kein Kranzfest mehr bestritten und startete aus den Trainings de facto von 0 auf 100 ans ESAF. Erneut war es eine erfolgreiche Rückkehr: Er konnte sich zum siebten Mal den Eidg. Kranz sichern. Die verletzte Schulter machte aber immer noch Probleme und wieder gab es einen Unfall, Chrigu verletzte sich im Herbst 2022 beim Holzen an der Hand – die Schwingsaison 2023 wie auch ein geregelter Rücktritt wurden mehr denn je in Frage gestellt.

Umso schöner ist der letztendliche Ausgang, denn Chrigu konnte wie geplant sein letztes Schwingfest beim Seeländischen im heimischen Lyss bestreiten. Und wie!
Wir hatten alle gehofft, dass er sich von seinen vorherigen Verletzungspech erholt haben möge und dass ihm doch eine gute Platzierung in der Schlussrangliste, sowie ein letzter Kranz vergönnt sei. Und was macht Chrigu? Schreibt den bestmöglichen Bericht zu seinem Rücktritt gleich selbst. Kämpft sich in den Schlussgang, braucht fast die gesamte Gangdauer von 12 Minuten und darf sich, nach einem letzten, siegreichen Kurz, zum Festsieger ausrufen lassen!
Und so lässt Chrigu uns, ohne Absicht, neben ihm mal wieder ziemlich klein aussehen.

Uns bleibt lediglich, Stucki Christian zu seiner langjährigen, beeindruckenden Karriere zu gratulieren und ihm für all die schönen Momente zu danken, welche er uns beschert hat. Wir wünschen ihm und seiner Familie von Herzen alles Gute und sind überzeugt, dass wir Chrigu – vielleicht nach einer grosszügigen Verschnaufpause – in der einen oder anderen Funktion im Schwingen wieder antreffen werden. Merci Chrigu!
